Ich hätte Henriettes Stimme so gern gehört, und wenn sie nur »nichts« gesagt hätte oder meinetwegen nur »Scheiße«. In ihrem Mund hatte es nicht eine Spur gemein geklungen. Als sie es zu Schnitzler sagte, wenn der von ihrer mystischen Begabung sprach, hatte es so schön geklungen wie Schnee (Schnitzler war ein Schriftsteller, einer der Schmarotzer, die während des Krieges bei uns lebten, und er hatte, wenn Henriette in ihren Zustand verfiel, immer von einer mystischen Begabung gesprochen, und sie hatte einfach »Scheiße« gesagt, wenn er davon anfing). Sie hätte auch etwas anderes sagen können: »Ich habe diesen doofen Fohlenach heute wieder geschlagen«, oder etwas Französisches: »La condition du Monsieur le Comte est parfaite.«. Sie hatte mir manchmal bei den Schularbeiten geholfen und wir hatten immer darüber gelacht, daß sie in anderer Leute Schularbeiten so gut, bei den eigenen so schlecht war. Statt dessen hörte ich nur das Altfrauenweinen meiner Mutter, und ich fragte: »Wie geht's Papa?« »Oh«, sagte sie, »er ist alt geworden - alt und weise.« »Und Leo?« »Oh, Le, der ist fleißig, fleißig«, sagte sie, »man prophezeit ihm eine Zukunft als Theologe.« »O Gott«, sagte ich, »ausgerechnet Leo eine Zukunft als Theologe.« »Es war ja ziemlich bitter für uns, als er übertrat«, sagte meine Mutter, »aber der Geist weht ja, wo er will.« Sie hatte ihre Stimme wieder ganz in der Gewalt, und ich war für einen Augenblick versucht, sie nach Schnitzler zu fragen, der immer noch bei uns zu Hause aus- und eingeht. Er war ein dicklicher, gepflegter Bursche, der damals immer vom edlen Europäertum, vom Selbstbewußtsein der Germanen schwärmte. Aus Neugierde hatte ich später einmal einen seiner Romane gelesen. »Französische Liebschaft«, langweiliger als der Titel versprach. Das überwältigend Originelle darin war die Tatsache, daß der Held, ein gefangener französischer Leutnant, blond war, und die Heldin, ein deutsches Mädchen von der Mosel, dunkelhaarig. Er zuckte jedesmal zusammen, wenn Henriette - im ganzen glaube ich zweimal — »Scheiße« sagte, und behauptete, eine mystische Begabung könne durchaus übereingehen mit der »zwanghaften Sucht, häßliche Wörter herauszuschleudern« (dabei war das bei Henriette gar nicht zwanghaft, und sie »schleuderte« das Wort gar nicht, sie sagte es einfach vor sich hin), und schleppte zum Beweis die fünf bändige Christliche Mystik von Görres an. In seinem Roman ging es natürlich fein zu, da »klingt die Poesie französischer Weinnamen wie Kristall, das Liebende aneinanderstoßen, um einander zu feiern«. Der Roman endet mit einer heimlichen Trauung; die aber brachte Schnitzler den Undank der Reichsschrifttumskammer ein, die ihm Schreibverbot auferlegte, etwa für zehn Monate. Die Amerikaner nahmen ihn mit offenen Armen als Widerstandskämpfer in den Kulturdienst, und er rennt heute durch Bonn und erzählt bei jeder Gelegenheit, er habe von den Nazis Schreibverbot gehabt. Ein solcher Heuchler braucht nicht einmal zu lügen, um immer richtig zu liegen. Dabei war er es, der meine Mutter zwang, uns zum Dienst zu schicken, mich ins Jungvolk und Henriette in den BDM. »In dieser Stunde, gnädige Frau, müssen wir einfach zusammenhalten, zusammenstehen, zusammen leiden.« Ich seh ihn am Kaminfeuer stehen, mit einer von Vaters Zigarren in der Hand. »Gewisse Ungerechtigkeiten, deren Opfer ich geworden bin, können nicht meine klare objektive Einsicht trüben, daß der Führer« - seine Stimme bebte tatsächlich - »der Führer die Rettung schon in der Hand hat.« Gesprochen etwa eineinhalb Tage, bevor die Amerikaner Bonn eroberten. »Was macht eigentlich Schnitzler?« fragte ich meine Mutter. »Großartig«, sagte sie, »im Auswärtigen Amt kann man ohne ihn gar nicht mehr auskommen.« Sie hat das alles natürlich vergessen, erstaunlich genug, daß di