(17) Es fiel mir ein, daß morgen Mutters jour fixe war. Ich könnte hingehen, mir wenigstens vom Geld meiner Eltern die Taschen voll Zigaretten und Salzmandeln stecken, eine Tüte für Oliven mitnehmen, eine zweite für Käsegebäck, dann mit dem Hut rundgehen und für »ein notleidendes Mitglied der Familie« sammeln. Ich hatte das als Fünfzehnjähriger einmal gemacht, »für einen besonderen Zweck« gesammelt und fast hundert Mark zusammenbekommen. Ich hatte nicht einmal Gewissensbisse, als ich das Geld für mich verwendete, und wenn ich morgen »für ein notleidendes Mitglied der Familie« sammelte, würde ich nicht einmal lügen: ich war ein notleidendes Mitglied der Familie - und später könnte ich noch in die Küche gehen, an Annas Busen weinen und mir ein paar Wurstreste einstecken. Alle bei meiner Mutter versammelten Idioten würden mein Auftreten für einen herrlichen Witz erklären, meine Mutter selbst würde es mit saurem Lächeln als Witz durchgehen lassen müssen - und keiner würde wissen, daß es todernst war. Diese Leute verstehen nichts. Sie wissen zwar alle, daß ein Clown melancholisch sein muß, um ein guter Clown zu sein, aber daß für ihn die Melancholie eine todernste Sache ist, darauf kommen sie nicht. Bei Mutters jour fixe würde ich sie alle treffen: Sommerwild und Kalick, Liberale und Sozialdemokraten, sechs verschiedene Sorten von Präsidenten, sogar Anti-Atom-Leute (meine Mutter war sogar einmal drei Tage Anti-Atomkämpferin gewesen, war aber dann, als ihr ein Präsident von irgendwas klar machte, daß eine konsequente Anti-Atom-Politik einen radikalen Aktiensturz herbeiführen würde, sofort - buchstäblich sofort, zum Telefon gelaufen, hatte das Komitee angerufen und sich »distanziert.«) Ich würde - zum Schluß erst, wenn ich mit meinem Hut schon rundgegangen war, Kalick öffentlich ohrfeigen, Sommerwild als pfäffischen Heuchler beschimpfen und den anwesenden Vertreter des Dachverbandes katholischer Laien der Verleitung zu Unzucht und Ehebruch anklagen. Ich nahm den Finger von der Wählscheibe und rief Kalick nicht an. Ich hatte ihn nur fragen wollen, ob er seine Vergangenheit inzwischen bewältigt habe, ob sein Verhältnis zur Macht noch in Ordnung sei und ob er mich über die jüdische Geistigkeit aufklären könne. Kalick hatte einmal während einer Hitlerjugendveranstaltung einen Vortrag gehalten mit dem Titel ›Machiavelli oder der Versuch, ein Verhältnis zur Macht zu gewinnend Ich verstand nicht viel davon, nur Kalicks »offenes, hier deutlich ausgesprochenes Bekenntnis zur Macht«, aber an den Mienen der anderen anwesenden Hitlerjugendführer konnte ich ablesen, daß sogar ihnen diese Rede zu weit ging. Kalick sprach ohnehin kaum von Machiavelli, nur von Kalick, und die Mienen der anderen Führer zeigten, daß sie diese Rede für eine öffentliche Schamlosigkeit hielten. Es gibt ja diese Burschen, von denen man soviel in den Zeitungen liest: Schamverletzer. Kalick war nichts weiter als ein politischer Schamverletzer, und wo er auftrat, ließ er Schamverletzte hinter sich. Ich freute mich auf den jour fixe. Ich würde endlich etwas vom Geld meiner Eltern haben: Oliven und Salzmandeln, Zigaretten - ich würde auch bündelweise Zigarren einstecken und sie unter Preis verkaufen. Ich würde Kalick den Orden von der Brust reißen und ihn ohrfeigen. Verglichen mit ihm, kam mir sogar meine Mutter menschlich vor. Als ich ihn zum letztenmal traf, bei meinen Eltern in der Garderobe, hatte er mich traurig angesehen und gesagt: »Es gibt für jeden Menschen eine Chance, die Christen nennen es Gnade.« Ich hatte ihm keine Antwort gegeben. Ich war schließlich kein Christ.