Ich fühlte mich besser. Das Knie schwoll ab, der Schmerz ließ nach, Kopfschmerz und Melancholie blieben, aber sie sind mir so vertraut wie der Gedanke an den Tod. Ein Künstler hat den Tod immer bei sich, wie ein guter Priester sein Brevier. Ich weiß sogar genau, wie es nach meinem Tod sein wird: die Schniergruft wird mir nicht erspart bleiben. Meine Mutter wird weinen und behaupten, sie sei die einzige gewesen, die mich je verstanden hat. Nach meinem Tod wird sie jedermann erzählen, »wie unser Hans wirklich war«. Bis zum heutigen Tag und wahrscheinlich bis in alle Ewigkeiten hinein ist sie fest davon überzeugt, daß ich »sinnlich« und »geldgierig« bin. Sie wird sagen: »Ja, unser Hans, der war begabt, nur leider sehr sinnlich und geldgierig - leider vollkommen undiszipliniert - aber so begabt, begabt.« Sommerwild wird sagen: »Unser guter Schnier, köstlich, köstlich -leider hatte er unausrottbare antiklerikale Ressentiments und keinerlei Gefühl für Metaphysik.« Blothert wird bereuen, daß er mit seiner Todesstrafe nicht früh genug durchgedrungen ist, um mich öffentlich hinrichten zu lassen. Für Fredebeul werde ich »eine unersetzliche Type« sein, »ohne jede soziologische Konsequenz«. Kinkel wird weinen, aufrichtig und heiß, er wird vollkommen erschüttert sein, aber zu spät. Monika Silvs wird schluchzen, als wenn sie meine Witwe wäre, und bereuen, daß sie nicht sofort zu mir gekommen ist und mir das Omelette gemacht hat. Marie wird es einfach nicht glauben, daß ich tot bin — sie wird Züpfner verlassen, von Hotel zu Hotel fahren und nach mir fragen, vergebens. Mein Vater wird die Tragik voll auskosten, voller Reue darüber sein, daß er mir nicht wenigstens ein paar Lappen heimlich auf den Garderobekasten legte, als er wegging. Karl und Sabine werden weinen, hemmungslos, auf eine Weise, die allen Teilnehmern am Begräbnis unästhetisch vorkommen wird. Sabine wird heimlich in Karls Manteltasche greifen, weil sie wieder ihr Taschentuch vergessen hat. Edgar wird sich verpflichtet fühlen, die Tränen zu unterdrücken, und vielleicht nach der Beerdigung in unserem Park die Hundertmeterstrecke noch einmal abgehen, allein zum Friedhof zurückgehen und an der Gedächtnisplakette für Henriette einen großen Strauß Rosen niederlegen. Außer mir weiß keiner, daß er in sie verliebt war, keiner weiß, daß die gebündelten Briefe, die ich verbrannte, alle hinten als Absender nur E. W. trugen. Und ich werde ein weiteres Geheimnis mit ins Grab nehmen: daß ich Mutter einmal beobachtete, wie sie im Keller heimlich in ihre Vorratskammer ging, sich eine dicke Scheibe Schinken abschnitt und sie unten aß, stehend, mit den Fingern, hastig, es sah nicht einmal widerwärtig aus, nur überraschend, und ich war eher gerührt als entsetzt. Ich war in den Keller gegangen, um in der Kofferkammer nach alten Tennisbällen zu suchen, verbotenerweise, und als ich ihre Schritte hörte, knipste ich das Licht aus, ich sah, wie sie ein Glas eingemachtes Apfelmus aus dem Regal nahm, das Glas noch einmal absetzte, sah nur die Schneidebewegung ihrer Ellenbogen, und dann stopfte sie sich die zusammengerollte Scheibe Schinken in den Mund. Ich habs nie erzählt und werde es nie erzählen. Unter einer Marmorplatte in der Schniergruft wird mein Geheimnis ruhen.