(8) Ich ging vom Balkon weg, ins Zimmer zurück und wählte, ohne zu zögern, die Nummer des Dings, in dem Leo studiert. Ich war bange. Seitdem er katholisch geworden ist, habe ich Leo noch nicht gesehen. Er hat mir die Konversion auf seine kindlich korrekte Art mitgeteilt: »Lieber Bruder«, schrieb er, »teile ich Dir hierdurch mit, daß ich nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluß gekommen bin, zur katholischen Kirche überzutreten und mich auf den Priesterberuf vorzubereiten. Gewiß werden wir bald Gelegenheit haben, uns mündlich über diese entscheidende Veränderung in meinem Leben zu unterhalten. Dein Dich liebender Bruder Leo.« Schon die altmodische Art, wie er krampfhaft versucht, den Brief beginn mit Ich zu umgehen; statt: ich teile Dir mit, teile ich Dir mit, schreibt - das war ganz Leo. Nichts von der Eleganz, mit der er Klavier spielen kann. Diese Art, alles geschäftsmäßig zu erledigen, steigert meine Melancholie. Wenn er so weitermacht, wird er einmal ein edler, weißhaariger Prälat. In diesem Punkt - im Briefstil - sind Vater und Leo gleich hilflos: sie schreiben über alles, als ob es um Braunkohle ginge. Es dauerte lange, ehe sich in dem Ding jemand bequemte, ans Telefon zu kommen, und ich fing gerade an, diese kirchliche Schlamperei, meiner Stimmung entsprechend, mit harten Worten zu brandmarken, sagte »Scheiße«, da hob dort jemand den Hörer ab, und eine überraschend heisere Stimme sagte: »Ja?« Ich war enttäuscht. Ich hatte mit einer sanften Nonnenstimme gerechnet, mit dem Geruch schwachen Kaffees und trockenen Kuchens, statt dessen: ein krächzender Mann, und es roch nach Krüllschnitt und Kohl, auf eine so penetrante Art, daß ich anfing zu husten. »Pardon«, sagte ich schließlich, »könnte ich den Studenten der Theologie Leo Schnier sprechen?« »Mit wem spreche ich?« »Schnier«, sagte ich. Offenbar ging das über seinen Horizont. Er schwieg lange, ich fing wieder an zu husten, faßte mich und sagte: »Ich buchstabiere: Schule, Nordpol, Ida, Emil, Richard.« »Was soll das?« sagte er schließlich, und ich glaubte, aus seiner Stimme soviel Verzweiflung zu hören, wie ich empfand. Vielleicht hatten sie einen netten alten, pfeiferauchenden Professor dort ans Telefon gesteckt, und ich kramte in aller Eile ein paar lateinische Vokabeln zusammen und sagte demütig: »Sum frater leonis.« Ich kam mir unfair dabei vor, ich dachte an die vielen, die vielleicht hin und wieder den Wunsch verspürten, jemand dort zu sprechen, und die nie ein lateinisches Wort gelernt hatten. Merkwürdigerweise kicherte er jetzt und sagte: »Frater turn est in refectorio - beim Essen«, sagte er etwas lauter, »die Herren sind beim Essen, und während des Essens darf nicht gestört werden.« »Die Sache ist sehr dringend«, sagte ich. »Todesfall?« fragte er. »Nein«, sagte ich, »aber fast.« »Also schwerer Unfall?« »Nein«, sagte ich, »ein innerlicher Unfall.« »Ach«, sagte er und seine Stimme klang etwas milder, »innere Verblutungen.« »Nein«, sagte ich, »seelisch. Eine rein seelische Angelegenheit.« Offenbar war das ein Fremdwort für ihn, er schwieg auf eine eisige Weise. »Mein Gott«, sagte ich, »der Mensch besteht doch aus Leib und Seele.« Sein Brummen schien Zweifel an dieser Behauptung auszudrücken, zwischen zwei Zügen aus seiner Pfeife murmelte er: »Augustin - Bonaventura - Cusanus - Sie sind auf dem falschen Wege.« »Seele«, sagte ich hartnäckig, »bitte richten Sie Herrn Schnier aus, die Seele seines Bruders sei in Gefahr, und er möge, sobald er mit dem Essen fertig ist, anrufen.« »Seele«, sagte er kalt, »Bruder, Gefahr.« Er hätte genausogut : Müll, Mist, Melkeimer sagen können. Mir kam die Sache komisch vor: immerhin wurden die Studenten dort zu zukünftigen Seelsorgern ausgebildet, und er mußte das Wort Seele schon einmal gehört haben. »Die Sache ist sehr, sehr dringend«, sagte ich.