Die Schuldigkeit des ersten Gebots (K. 35): IV [Recitativo] — So vieler Seelen Fall
BARMHERZIGKEIT So vieler Seelen Fall ist zwar mit allem Fug beweinungswürdig anzusehn, doch ist es selbst ihr Will', dass sie zu Grunde gehn. Das erste, grösste, ja das wichtigste Gebot: aus ganzer Seel', aus Herz und Kräften zu lieben ihren Herrn und Gott, scheint ihrem trägen Sinn gleich einer Last zu sein,
GERECHTIGKEIT Flösst ihnen der Verstand, ja endlich die Natur nicht diese Pflicht als Kindern ein, weil er als Vater sie aus Nichts gebildet hat, weil er sie schützet, liebet, nähret und ewiglich belohriet?
BARMHERZIGKEIT Ist er denn nicht das einzig wahre Gut, mithin auch höchster Liebe wert?
GERECHTIGKEIT Pracht, Wollust, Eigennutz und eitler Ehre Schein sind die gemeinen Götzen, die sie dem Schöpfer gleich, ja höher schätzen.
BARMHERZIGKEIT Derselben Ausspruch gilt viel mehr als Gottes Wort.
GERECHTIGKEIT Sie wenden nur nach deren falschen Schimmer die blöden Augenlichter, und schauen doch sich selber nicht, noch Himmel, Hölle, Tod und Richter.
BARMHERZIGKEIT Sie lieben die Unwissenheit der Lehre ihres Heils und ihrer Schuldigkeit.
GERECHTIGKEIT Wenn sie auf solche Weise noch Beispiel der Belohnten, noch der Bestraften wollen sehen,
BARMHERZIGKEIT wenn sie mein Rufen, mein Ermahnen nicht wollen hören, noch verstehen,
GERECHTIGKEIT so kann Gerechtigkeit sie nicht der Schuld entbinden,
BARMHERZIGKEIT so kann Barmherzigkeit für sie kein Mitleid finden.